Kommentar

Halten wir die Religion lebendig

Soziale Medien können es leichter machen, echte Freundschaften zu schließen, aber um sie zu bewahren, braucht man Institutionen

Wir alle profitieren von der Kommunikationstechnik der heutigen Zeit. Mit ihren bahnbrechenden Errungenschaften überbrückt sie weite Strecken, sie beschleunigt den Meinungsaustausch, fördert die Bildung, erleichtert das Einkaufen und dient unserer Unterhaltung. Doch wie wirkt sie sich auf die Beziehungen aus, die wir untereinander, in unserer Gesellschaft und schließlich auch zu Gott haben? Wie wirkt sich diese Technik auf unsere Wahrnehmung der Realität aus?

Das Spannungsverhältnis zwischen dem Cyberspace und der realen Welt führt zu einem vielschichtigen Balanceakt, es ist ein typisches Kennzeichen unserer Zeit. Wir alle haben unsere Mühe mit der "durch Technik verstärkten Isolation" und wollen zur "darunter liegenden Menschlichkeit" gelangen.1

Sherry Turkle, eine bekannte Analytikerin der sozialen Aspekte von Wissenschaft und Technik, sagt dazu, dass wir heute zwar alle miteinander verbunden, aber dennoch allein sind: "Jedes neue Gerät erhöht die Schlagzahl noch weiter. In dieser sich immer schneller drehenden Spirale mutet es uns als beruhigend an, Technologien zu benutzen, die uns aus der Ferne mit anderen Menschen verbinden. Aber selbst viele entfernte Menschen reichen uns oft nicht aus."2

Tatsächlich fühlen sich mindestens 40 Prozent der erwachsenen Amerikaner über 45 einsam.3 Auch wenn viele von ihnen Hunderte Freunde auf Facebook haben - im echten Leben haben Amerikaner im Durchschnitt nur zwei gute Freunde.4 Es ist kaum verwunderlich, stellt Turkle fest, dass "die Bande, die wir im Internet knüpfen, … letztlich nicht die Bande [sind], die uns aneinander binden."5

Die sozialen Medien können es leichter machen, Freundschaften zu schließen und zu fördern, und das gelingt auch oft, aber um sie zu bewahren, braucht man Institutionen.

Der gewichtige soziale Wert der Religion

Die zerbrechlichen Bindungen, die durch die Technik zustande kommen, sollten unseren Blick auf die starken Bindungen richten, die in organisierter Religion zu finden sind. Spiritualität kann man freilich auch in Abgeschiedenheit erleben, aber "Religion entsteht erst dann, wenn man mit Freunden und Angehörigen zusammenkommt".6 Wir sind soziale Wesen, dafür geschaffen, miteinander zu interagieren.

  

Wie die lateinische Wurzel des Wortes andeutet ("binden"), soll Religion eine einende Kraft sein, die uns zusammenbringt. Heute aber gehen immer weniger Menschen in die Kirche, was für die Gesellschaft insgesamt genauso von Nachteil ist wie für die Kirchen selbst. Gotteshäuser sind ein Beispiel für das, was ein Soziologe einmal den "dritten Raum"7 genannt hat: ein Raum, wo die Gemeinschaft gefördert wird und wo man seine Zeit zwischen dem ersten Raum, dem Zuhause, und dem zweiten Raum, dem Arbeitsplatz, verbringt. Tatsächlich versammeln sich diejenigen, die in die Kirche gehen, regelmäßig in ihrer Gemeinde, um einander mit Rat und Tat und auch mit Trost zur Seite zu stehen. Sie sind miteinander und mit Gott als Bundesgenossen vereint und teilen Freud und Leid.

Des anderen Last zu tragen bringt Menschen einander ungemein näher - zum Teil oft deswegen, weil man dazu persönlich Umgang miteinander haben muss. Diese körperliche Anwesenheit ist ein Schlüssel, wie die Religion die Gesellschaft zusammenhält. Wie Rabbi David Wolpe gesagt hat, bleiben die Kirchen "dieser ausgesuchte Raum in der amerikanischen Gesellschaft, wo Menschen unterschiedlichen Alters aus einem gemeinsamen Grund zusammensitzen. … In einer Welt, in der Zusammenhalt immer schwieriger wird und Zersplitterung zur Regel, schafft das Gebet einen Augenblick Gemeinsamkeit."8

Die Kraft persönlicher Seelsorge

Eine virtuelle Seelsorge kann es nicht geben. Christen können es gar nicht hoch genug bewerten, dass Jesus als echter Mensch kam, um echten Menschen an echten Orten zu dienen. "Es kann kein christliches Evangelium jenseits von Orten und Personen geben", hat ein bekannter Pastor geschrieben. "Es kommt ausschließlich durch Schöpfung und Fleischwerdung, durch Dinge und Menschen zur Wirkung."9

Jesus segnete Menschen des täglichen Lebens - Männer, Frauen und Kinder: die Kranken, die Tauben, die Blinden und die Stummen. Er blieb nach seiner Auferstehung 40 Tage lang bei seinen Jüngern. Dem Buch Mormon zufolge besuchte er Menschen in anderen Ländern. Er weinte mit ihnen, heilte sie und umarmte sie - einen nach dem anderen, so unterschiedlich und komplex sie auch waren.10 Sein persönlicher Besuch war so beeindruckend, dass die Menschen danach noch über 160 Jahre lang in Frieden und Harmonie lebten wie niemals zuvor.11

Wenn die Religion Teil unseres Lebens ist, kann die Wirkung ähnlich sein. Wer sich allein daheim auf YouTube eine Predigt anschaut, kann davon inspiriert, erbaut und motiviert werden. Einer solchen Erfahrung im stillen Kämmerlein fehlt jedoch die menschliche Note. Sie wird nicht greifbar. "Ein Bildschirm kann sich nicht mit der Spannung und der Herzlichkeit messen, die der Kontakt mit einem Menschen mit sich bringt", so Rabbi Wolpe.12 Dieser Kontakt ist wichtig. Uns muss klar sein, wie es in einer Studie über Religion in Amerika heißt, dass individuelle Spiritualität erst dann in gutnachbarschaftliche Verhältnisse umschlägt, wenn wir "religiöse Zugehörigkeit" spüren und "nach einem Gottesdienst" mit Freunden plaudern "oder einem Bibelkreis beitreten".13

Das soziale Leben im Jenseits

1843, lange vor unserem verpixelten Zeitalter, hat Joseph Smith gesagt, dass der gleiche gesellige Umgang, der unter uns hier vorhanden ist, auch im Himmel unter uns vorhanden sein wird, nur wird er "mit ewiger Herrlichkeit" verbunden sein.14 Diese Botschaft aus einer Zeit, in der keinerlei Bildschirme die Vermittlung übernahmen, sagt sehr viel darüber aus, dass Gott nicht nur etwas daran liegt, dass wir miteinander in Kontakt treten, sondern dass wir es auch gemeinsam und persönlich tun. Der Himmel besteht demnach aus anderen Menschen.

Seelsorge von Angesicht zu Angesicht und gemeinsame Gottesverehrung besitzen größeres Gewicht als ein digitales Treffen, denn wir können erkennen, wie etwas wirklich ist15, wenn wir unseren Mitmenschen ins Auge blicken und das Angesicht Gottes sich darin widerspiegelt.

________________________________________

1 Lauren DeFilippo, "Drive-In Jesus", New York Times, 1. August 2017, https://www.nytimes.com/2017/08/01/opinion/drive-in-church-florida.html?_r=0

2 Sherry Turkle, Verloren unter 100 Freunden: Wie wir in der digitalen Welt seelisch verkümmern

3 Siehe G. Oscar Anderson, "Loneliness among Older Adults: A National Survey of Adults 45+", AARP, September 2010, https://www.aarp.org/research/topics/life/info-2014/loneliness_2010.html

4 Siehe "You Gotta Have Friends? Most Have Just 2 True Pals", NBC News, 4. November 2011, https://www.nbcnews.com/health/health-news/you-gotta-have-friends-most-have-just-2-true-pals-f1C6436540

5 Sherry Turkle, Verloren unter 100 Freunden

6 Siehe Patrick Mason, Planted: Belief and Belonging in an Age of Doubt, 2015, Seite 136

7 Ray Oldenburg, Project for Public Spaces, https://www.pps.org/reference/roldenburg/

8 Rabbi David Wolpe, "The Internet Can’t Replace Real Human Interaction", Time, 16. September 2015, http://time.com/4036310/rosh-hashana-internet-sacred-spaces/

9 Eugene H. Peterson, As Kingfishers Catch Fire: A Conversation on the Ways of God Formed by the Words of God, 2017, Seite 81

10 Siehe 3 Nephi 11:15

11 Siehe 4 Nephi 1:17-24

12 Rabbi David Wolpe, "The Internet Can’t Replace Real Human Interaction", http://time.com/4036310/rosh-hashana-internet-sacred-spaces/

13 David E. Campbell and Robert D. Putnam, American Grace: How Religion Divides and Unites Us, 2010, Seite 472

14 Siehe Lehre und Bündnisse 130:2

15 Siehe Jakob 4:13

Hinweis an Journalisten:Bitte verwenden Sie bei der Berichterstattung über die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage bei deren ersten Nennung den vollständigen Namen der Kirche. Weitere Informationen hierzu im Bereich Name der Kirche.